Police" in Paris gestanden hatte - hatte er seinen ersten großen Erfolg verbucht: Mit Hilfe der von ihm selbst angelegten Kartei identifizierte er 49 Wiederholungstäter unter 589 Verdächtigen. Der Polizeipräsident Camescasse ist beeindruckt. Bertillon bekommt zwei Assistenten und beginnt nach den Messungen bestimmter, nach Ansicht der Wissenschaft unveränderbarer Körpermerkmale, die Verdächtigen zu fotografieren.
Sehr bald nimmt er ebenfalls die Opfer an den entsprechenden Tatorten auf. Diese "Spurensuche" erfaßt nicht nur die Lage der Getöteten, sondern vor allem die Art und Weise, wie das Verbrechen geschah. Ein spezielles Weitwinkelobjektiv und ein Magnesiumblitz gehören zur Ausrüstung. Bertillon listet genau die Umstände des Verbrechens auf: Dies hilft ihm, die "Handschrift" des Mörders zu entschlüsseln.
Die Erfolge des damals berühmt-berüchtigten Hauptkommissars Armand Cochefert scheinen ohne Bertillons Hilfe kaum möglich zu sein: Der eine läßt sich von der Intuition leiten, der andere kennt nur die Wissenschaft. Die "Bertillonage", die auf der Auswertung und dem genauen Vergleich statistischer und anthropometrischer Daten basierte, avancierte sehr bald zum offiziellen Begriff einer Fahndungsmethode. Sie wurde zur Grundlage der modernen Kriminalistik, obgleich sie in der linken Presse eher abschätzig als Teil des Repressionssystems abqualifiziert wurde. Erst der genetische Fingerabdruck ersetzte sie restlos.
Das Karteisystem von Bertillon umfaßte also neben den anthropometrischen Daten auch Aufnahmen der Beschuldigten en face und im Profil, und zwar so, daß die Kameraentfernung immer konstant blieb. Diese Fotos und Dokumente durften das "Département de l'anthropométrie" nicht verlassen. Bertillon verstand es jedoch, sich hervorragend der Boulevardpresse zu bedienen. Nur "gefilterte" Informationen und ausgewählte Fotos - meist Porträts der Toten - wurden der Presse zugespielt, vor allem, wenn es darum ging, Kriminalfälle mit Hilfe der Bevölkerung aufzuklären.
Im Jahr 1971 erfuhr die amerikanische Fotohistorikerin Eugenia Parry, daß ein Pariser Sammler ein Album besaß, das einige der aufsehenerregenden Kriminalfälle zwischen 1886 und 1902 dokumentierte. Heimlich hatte jemand eine Privatdokumentation angelegt. Für Parry war die Entdeckung dieser Fotografien Anlaß, eine Art "criminologie romancée" zu entwerfen, um aus verschiedenen Blickwinkeln das tatsächlich Geschehene neu zu erzählen.
So läßt sie beispielsweise einen Gehilfen am Anatomischen Institut der Pariser Medizinfakultät zu Wort kommen, der bei dem Fall des Mörders Henri-Jacques-Ernest Pranzini seine Stelle verliert. Pranzini, der nicht nur die Kurtisane Marie Regnault, sondern auch deren Dienstmädchen Annette Gremeret sowie deren elfjährige Tochter umgebracht hatte, wurde im August 1887 durch die Guillotine hingerichtet. Der dreifache brutale Mord im März 1887 bewegte mehrere Monate lang die Pariser Halbwelt und die Boulevardpresse. Nachdem Pranzini gefaßt wurde, fotografierte Bertillon ihn. Das Album zeigt zudem die Aufnahmen der beiden Frauen mit ihren schrecklichen Todeswunden.
Der junge Gehilfe erzählt in der Ich-Form das Geschehen am Institut, wo ein makabrer Handel mit Körperteilen betrieben wird. Dort sieht man den guillotinierten Pranzini als erstklassige Ware an. Der Detektiv Rossignol nimmt während der Autopsie des Mörders den jungen Mann beiseite und bittet ihn um ein "Souvenir" für seinen Chef Goron. Da es keine persönlichen Gegenstände gibt, schneidet man einfach ein bißchen Brusthaut ab. Rossignol bestellt zwei Kästchen, in denen die bearbeitete "Haut" als Geschenk an Goron sowie an dessen Vorgesetzten Taylor gehen soll. Rossignol kann jedoch seinen Mund nicht halten und erzählt dem Schreiner, welche Kostbarkeiten er da hat - ein Fehler. Ein Journalist des "Figaro" berichtet in mehreren Artikeln über die dubiosen Praktiken der Polizei. Taylor verliert seinen Job. Die anderen Handelspraktiken am Anatomischen Institut werden nicht mehr erwähnt, Rossignol hält dicht. Der junge Gehilfe jedoch wird entlassen.
Eine andere Geschichte erzählt den Fall des siebenjährigen Mädchens Angèle Chèze aus der Sicht des bekannten Schweizer Illustrators Théophile Alexandre Steinlen. Die kleine Angèle mochte Steinlen, vor allem wegen seiner Katzenliebe. Und Steinlen war von ihrer Intelligenz begeistert. Zusammen mit dem Kater, den er ihr schenkte, zeichnet er sie. Zwei Tage später sitzt Steinlen mit einigen Künstlerfreunden in einem Bistro in der Rue de Saules, als er vom Sohn eines Polizisten gebeten wird, ihm in das Haus Nummer 29 zu folgen. Da liegt die Kleine, erwürgt. Steinlen trägt sie in die Bar nach unten, ihr Körper ist warm, sie scheint noch zu atmen. Bertillon kommt mit seiner fotografischen Ausrüstung; Armand Cochefert übernimmt die Ermittlungen. Das Mädchen hat möglicherweise kurz vor seinem Tod Tee getrunken und wurde dann mit Äther betäubt. Die Obduktion stellt keine andere Gewalteinwirkung fest. Der Mörder Henri-Guillaume-Hector Ducocq wird in Brüssel verhaftet. Das eigentliche Motiv bleibt unklar. Angèle schien auch in ihrem Todeskampf zu lächeln. Sie kannte den Mörder; er lebte in der Nähe ihres Elternhauses.
Eugenia Parry ist eine ausgewiesene Kennerin der Fotografiegeschichte des neunzehnten Jahrhunderts: Ihre Essays über die französische Kalotypie, über die Fotografen Henri LeSecq, Gustave Le Gray und unlängst über Edgar Degas als Fotograf sind erstklassige Beiträge zur Fotografiegeschichte. In vierundzwanzig "Crime Stories" versucht sie, ein "Paris antique" zum Leben zu erwecken. Sämtliche Kriminalfälle, auf die das Album hinweist, hat sie genau recherchiert. Hinzu kommt ihre ausgezeichnete Kenntnis der Geographie und der Kunstgeschichte der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts - Voraussetzungen dafür, um ein spannendes Tableau des Gesellschaftslebens in Paris um die Jahrhundertwende zu entwerfen.
Dennoch entsteht keine Spannung, wie man sie aus anderen "crime stories" kennt. Die Treue zu Bertillons Fotografie zwingt Parry, die Kriminalfälle "von hinten aufzurollen". Die Täter sind bekannt, die Opfer auch. Das Problem der Identifikation haben Bertillon und Cochefert meistens bereits mit Bravour geleistet. Die metaphysische Dimension, die fast jedes Kapitalverbrechen begleitet, fehlt. Auch muß die Autorin auf die "Täterpsychologie" verzichten - denn das Album enthält, wie die zeitgenössischen Zeitungsberichte, nur Fakten.
Kurz vor Bertillons Tod am 13. Februar 1914 wurde er gefragt, ob er eingesehen hätte, daß er sich in seinem Gutachten zur Dreyfusaffäre geirrt hätte und ob er seine Beschuldigung zurücknehme, da die Unschuld des Kapitäns inzwischen erwiesen ist. Der einundsechzigjährige, blinde und schwerkranke Mann lehnte ab. So gelten Bertillons kriminalistische Anthropometrie und seine fotografische Praxis noch immer als Ausdruck eines recht konservativen Beamten. Geflissentlich hat man übersehen, daß in der Rubrik "Religion" in seiner Geburtsurkunde stand: Keine. Es hätte dort stehen können - Wissenschaft und Wahrheit. In Bertillons Augen war die erste Conditio sine qua non für die zweite.
MILAN CHLUMSKY
Eugenia Parry: "Crime Album Stories". Paris 1886-1902. Scalo Publishers, Zürich 2000. 320 S., 60 Abb., geb., £ 19,95.
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